Wenn Kletterer mit einem Zug in ihrem Projekt zu kämpfen haben, liegt es in den meisten Fällen entweder an der Kraft oder am technischen Anspruch der Bewegung. Während bei Problem #1 die Lösung gezieltes Krafttraining ist, setzen viele im Falle von #2 auf das Einschleifen. Gemeint ist damit das häufige Wiederholen des Zuges, bis man dessen Feinheiten ausgearbeitet hat und ihn quasi auf Autopilot absolvieren kann. Besonders bei koordinativ anspruchsvollen Zügen ist das beliebt. Tatsächlich fühlen sich schwere Bewegungen so nach kurzer Zeit immer machbarer an. Das vermittelt den Eindruck, man hätte die Bewegung und dazugehörige Technik verinnerlicht. Das ist allerdings ein Trugschluss. Wer neue Techniken schnell beherrschen möchte, muss andere Wege gehen.
Geschafft ist nicht gleich erlernt
Damit klar wird, warum das eine mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun hat, muss man erst einmal klären, was mit Lernen eigentlich gemeint ist: Eine Bewegung zu erlernen heißt nicht nur, sie während einer Trainingseinheit ein oder mehrere Male absolvieren zu können. Es bedeutet stattdessen, sie auch in späteren Sessions wieder abzurufen, ohne sie erneut einschleifen zu müssen. Wenn das Lernen effektiv funktioniert hat, gelingt das nach Wochen noch. Und die Fortschritte beschränken sich nicht allein auf einen Zug, sondern lassen sich auch auf andere Kletterstellen mit ähnlichem Charakter übertragen.
Gerade für Kletterer ist dieser Prozess wichtig. Zwar sagt man gern, dass beim Klettern auch deshalb selten Langeweile aufkommt, weil kein Kletterzug dem anderen gleicht und man ständig neue Bewegung macht. Trotzdem tauchen bestimmte Muster immer wieder auf. Diese kennen wir als Grundtechniken. Dazu gehören beispielsweise Hooks, das Eindrehen, das Aufhocken, die Hüftauslösung oder das Pogobein. Je mehr dieser Techniken du dir angeeignet hast, desto leichter fällt es dir auch, Lösungen für völlig neue Routen zu finden. Vielleicht hast du diese Erfahrung selbst schon gemacht: Sobald man Techniken wie Hooks oder das Eindrehen für sich entdeckt hat, eröffnen diese völlig neue und kraftsparende Wege, sich an der Wand zu bewegen. Und mancher Zug, der sich zuvor nur unter maximalen Krafteinsatz hat lösen lassen, wird auf einmal zur leichten Kür.
Natürlich passiert das nicht unmittelbar. Zwischen dem Moment, in dem du deinen ersten Hook gelegt hast, und dem Punkt, an dem es sich um eine variabel einsetzbare Technik aus deinem Bewegungsrepertoire handelt, braucht es einiges an Übung. Erst wenn du sie tatsächlich verinnerlicht hast, ist es dir möglich, sie auf immer neue Klettersituationen anzupassen. Die entscheidende Frage ist, wie lange es dauert, bis du vom Kennenlernen zum Beherrschen kommst.
Warum die Lernrate beim Einschleifen suboptimal ist
Wie die Forschung gezeigt hat, ist das Einschleifen von Bewegungen dafür nicht der beste Weg. Zwar erzielst du damit schnelle Erfolge während einer Session, der Lerneffekt bleibt aber gering. Wenn du schon einmal einen Dyno projektiert hast, kennst du vermutlich folgende Situation: Nachdem du ihn dir während einer Session in vielen Versuchen erarbeitet hast, klappt er direkt im Anschluss immer wieder. Versuchst du ihn ein paar Tage später aber erneut, ist das nicht mehr der Fall. Es braucht wieder einige Versuche, bis die Bewegung funktioniert.
Eine Erklärung dafür liefert die Theorie des differenziellen Lernens, auf deren Basis in den letzten Jahren neue erfolgreiche Ansätze zum Bewegungslernen entwickelt wurden. Ihr zufolge ist der Schlüssel zum schnellen Erlernen einer Bewegung Variation in der Bewegung. Genau die geht beim Einschleifen aber schon nach ein paar Versuchen verloren, weil die Bewegungsausführung mit jeder Wiederholung immer gleichförmiger wird. Ab einem gewissen Punkt kommt der Lernprozess dadurch zum Erliegen. Alle folgenden Wiederholungen bringen allenfalls geringe Lernfortschritte mit sich. Das differenzielle Lernen setzt deshalb auf stetige Veränderung der Bewegung, um den Lernerfolg zu maximieren.
Damit das funktioniert, musst du allerdings erst einmal umdenken, was zugegebenermaßen eine Herausforderung sein kann. Denn anders als beim normalen Bouldern spielt der Durchstieg bei dieser Form des Techniktrainings keine Rolle mehr. Es ist nicht einmal nötig, exakt den Zug zu machen, für den du trainierst. Das belohnende Gefühl, tatsächlich etwas geschafft zu haben, fällt möglicherweise aus. Der Verzicht auf einen Teil des Spaßes trägt allerdings später Früchte.
Wie du das differenzielle Lernen für dich nutzen kannst
Und so funktioniert es: Bei einem Zug, der dir bisher nicht gelungen ist, versuchst du erst einmal, ihn in eine machbare Form zu bringen. Eine gute Möglichkeit dafür ist es, Griffe oder Tritte aus einem anderen Boulder mitzunutzen, um zum Beispiel bei weiten Zügen die Abstände zu verkleinern. Wichtig ist allerdings, dass der Charakter des Zugs erhalten bleibt. Wenn du das Eindrehen erlernen möchtest, ist jede Variante des Eindrehens hilfreich, die gleiche Kletterstelle frontal zu lösen jedoch nicht.
Anschließend versuchst du drei Mal, den umdefinierten Zug zu schaffen. Gelingt es dir, gehst du erneut in die Kletterstelle hinein, beginnst aber, deine Bewegungsausführung bewusst zu verändern. Die Unterschiede können subtil sein, beispielsweise in dem du die Bewegung schneller oder langsamer ausführst. Du kannst aber auch mit verschiedenen Gelenkstellungen spielen. Mal hebst du die Fersen, mal senkst du sie, streckst oder beugst die Arme und Beine mehr oder weniger. Wichtig ist, dass du die gleiche Bewegung nicht zwei Mal hintereinander machst.
Natürlich kannst du den Zug genauso variieren, in dem du die Griff- und Trittkombination erneut anpasst. Darauf solltest du auch zurückgreifen, wenn du den von dir definierten Zug nicht innerhalb der ersten drei Durchgänge geschafft hast. Versuche dann, die Kletterstelle noch einmal zu entschärfen, aber ihren Charakter weiterhin beizubehalten. Klappt das nicht, schau am Besten nach vergleichbaren, machbaren Zügen in anderen Bouldern und versuche dort, möglichst viele Variationen durchzuspielen. Neben unterschiedlichen Wandneigungen, Griffformen und -abständen sowie verschiedenen Bewegungsabläufen bekommst du so möglicherweise auch die Chance, den Zug gespiegelt zu trainieren. Das ist vor allem dann interessant, wenn es dir weniger um eine bestimmte Kletterstelle, sondern die Technik an sich geht. Üben kannst du, solange es dir Spaß macht und dir immer wieder neue Variationen einfallen.
Wie lange dauert es, bis dieses Training Früchte trägt?
Wie schnell du mit dieser Methode in der Lage sein wirst, deine Wunschroute zu klettern, ist schwer zu sagen. Das hängt vor allem davon ab, wie nah du der Lösung zu Beginn bist. Du musst dich allerdings darauf einstellen, mehr Versuche als beim Einschleifen zu benötigen. Durch das ständige Variieren wird die Bewegungsausführung während des Trainings nicht so stabil. Das gewohnte Gefühl, es von Zug zu Zug etwas leichter zu haben, wird sich deshalb nicht unbedingt einstellen.
Im Gegenzug hast du deinem Kopf und deinem Körper eine Menge neuer Informationen geliefert, die ihm helfen, die zu erlernende Technik besser zu verstehen. Man spricht vom Abtasten des Lösungsraums. Das hilft dir später, die geübte Technik in unterschiedlichsten Situationen schneller und sicherer abzurufen. Studien haben sogar zeigen können, dass sich die Leistung auch Wochen nach dem Training noch verbessern kann. Darin unterscheidet sich das differenzielle Lernen deutlich von anderen Methoden des Bewegungslernens, bei denen zunehmender Abstand zum Training normalerweise mit einer sinkenden Leistung einhergeht.
Techniktraining darf keine Eintagsfliege sein
Nichtsdestotrotz darfst du auch diese Methode nicht als Wundermittel betrachten. Sie kann dir zwar helfen, neue Techniken schneller in dein Bewegungsrepertoire aufzunehmen, dennoch ist regelmäßiges Techniktraining Pflicht, wenn du dich verbessern willst. Dabei müssen es nicht immer Sessions sein, in denen du einem Zug besonders große Aufmerksamkeit widmest. Beim Klettern bietet schon das Wiederholen von einmal gekletterten Zügen in verschiedenen Sessions eine Light-Variante des differenziellen Trainings – sofern sie dich herausgefordert haben. Die veränderten Bedingungen an unterschiedlichen Tagen sorgen dafür, dass du die Bewegungungsausführung anpassen musst, um erfolgreich zu sein. Dein Körper erhält dadurch auch in alten Problemen neuen Lernstoff. Es ist also immer eine gute Idee, sich nicht damit zufrieden zu geben, eine schwere Kletterstelle einmal geschafft zu haben. Ein echter Könner ist man erst, wenn es mehrmals klappt.